Jungs weinen nicht!

"Du bist doch schon groß!"
"Jungs weinen nicht!"
"Stell Dich nicht so an!"
Wenn ich als Kind traurig war oder mir weh getan hatte, war es oft eine dieser Floskeln, die mir entgegen flog. Bei der Generation meiner Großeltern war die Definition, was Jungs machen und was nicht, sehr stark und offensichtlich, und Weinen gehörte definitiv nicht dazu. Bei der Generation meiner Eltern war an der Oberfläche mehr Verständnis vorhanden, aber darunter eine große Hilflosigkeit, wie man jetzt mit dieser Situation umgehen soll, in der jemand etwas macht, das nicht dem Idealbild entspricht. Bei allen konnte man die Gedanken „Was sollen nur die Leute denken!“ und „Lass das bitte schnell vorbei sein!“ förmlich um den Kopf kreisen sehen - und eine Angst, selbst etwas falsch zu machen.
Als Kind war es meist weniger die Ursache, die zum Weinen geführt hatte, sondern vielmehr das Gefühl, nicht ernst genommen bzw. abgelehnt zu werden, das nachhaltig weh tat.
Die Konsequenz daraus war, dass ich immer mehr versuchte, meine Gefühle wegzudrücken und nur noch das zu zeigen, womit ich nicht allzu unangenehm anecken würde. Ich lernte zu kalkulieren.
Und damit war ich Teil dieses sich ewig selbst erhaltenden Kreislaufs. Je mehr ich wegdrückte, umso starrer wurden auch in mir die Konzepte, was man macht und was nicht, was richtig ist und was falsch und genau damit traktierte ich die Menschen um mich herum. Nicht so offensichtlich wie bei der älteren Generation, die mit der „Jungs weinen nicht!“-Maxime durchs Leben eierte, sondern wesentlich intransparenter und daher eigentlich noch fieser. Ich war immer höflich, hilfsbereit und arbeitswillig – be- und verurteile hinter dieser netten Fassade aber alles und jeden - vor allem mich selbst. Verständnis war mir fremd, und das ständig zunehmende Kalkül machte mich nahezu unnahbar.
Dann schlug ein einziger Moment in mein Leben ein wie eine Bombe.
Als ich meinen heutigen Mann zum ersten Mal traf, schaute ich ihm in die Augen und fühlte etwas, dass ich zuerst gar nicht in Worte fassen konnte: da schaute mich jemand an, der mich nicht einen Deut anders haben wollte als ich war, für den ich nicht irgendwelche Erwartungen zu erfüllen hatte und der nichts von mir brauchte.
Dieses eine Erlebnis hat mich aus dem über Generationen
in meiner Familie eingefahrenen Kreislauf
des Sich-Anpassens und Sich-Verstellens heraus gekickt.
Am Anfang fühlte sich das so an wie ein gigangtisches Erdbeben und ich stand ziemlich bald ratlos vor einem eingestürzten Kartenhaus, dass ich für mein solides Leben gehalten hatte und wusste zuerst nicht, was ich nun mit all diesen Karten neues bauen sollte.
Stück für Stück habe ich gelernt, mir Hilfe zu holen, statt alles selbst lösen zu wollen und angefangen, mich und mein Leben neu zusammen zu bauen.
Dabei habe ich gelernt, dass wirkliche Sicherheit nur in mir entstehen kann, wenn ich mich so akzeptiere und liebe wie ich bin.
Dann ist es egal, ob jemand anderer diese Ansicht teilt oder nicht und ich bin frei. Frei mich auszudrücken und frei, andere sie selbst sein zu lassen, anstatt etwas ganz Bestimmtes von ihnen zu brauchen. Frei, jeden sehen und spüren zu lassen, dass man sich trauen kann, man selbst zu sein, ohne dafür geköpft zu werden.
Diese Freiheit ist die Basis dafür, sich selbst und andere ernst nehmen und wirklich verstehen und lieben zu können.