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Leben mit der Diagnose "chronischer Krebs"


Michael Kremer

Foto © Alexandra Heneka

Der folgende Blog-Beitrag ist ein Interview mit einer Freundin, die ihren Umgang mit einer schweren Diagnose gefunden hat: Krebs, Stadium 4: chronisch, metastasiert.

Wir empfanden die Veränderungen und Erfahrungen so berührend und wertvoll für viele Menschen in ähnlichen Situationen, dass wir ein Interview geführt haben und es an dieser Stelle veröffentlichen.

Es sei darauf hingewiesen, dass etwaige positive Veränderungen im Leben unserer Freundin nicht nachweislich mit einer in dieser Praxis angewandten Therapie-Form in Zusammenhang stehen. Wir distanzieren uns ausdrücklich von einer solchen Aussage.

Felix und Michael Kremer

 

WER BIST DU?

Ich bin, 45 Jahre alt, alleinerziehende Mutter einer 10jährigen Tochter.

Im März 2017 erhielt ich die Diagnose Krebs, Stadium 4 (von 4). Für die Schulmedizin unheilbar, sie nennen es heute „chronisch“, um das Wort unheilbar zu umgehen. Ein Schock, aus dem Nichts, überwältigend, alles fesselnd, leichte bis schwere Panik, ein unfassbarerer Schmerz beim Anblick meiner Tochter. Krebs = Tod!???

Es folgte eine 6-wöchige Radiochemotherapie, Entfernung von drei Entzündungsherden im Kiefer, Ernährungsumstellung, radikale Stressreduktion. Parallel holte ich mir psychotherapeutische Hilfe.

Ende Juli folgte wieder eine komplette Untersuchung mit dem Ergebnis: Der Primärtumor ist massiv geschrumpft und wird wahrscheinlich ganz verschwinden und die Lebermetastasen sind weg! Dieses Ergebnis war für meine Onkologin so unglaublich, dass sie die Untersuchung ein zweites Mal durchführen ließ. Ja, es wurde erneut bestätigt. Nach dem zweiten Ergebnis sagte sie zu mir, es sei nur eine Frage der Zeit, bis alles wieder kommen wird.

 

WIE GING ES DIR VOR DER DIAGNOSE?

Aus heutiger Sicht ging es mir damals sehr schlecht, ohne es zu bemerken. Mein Alltag war durchgetaktet von morgens bis abends. Ich war Mutter und Vollzeit berufstätig (selbstständig), ich kam in meinem Leben gar nicht mehr vor, bei aller Liebe für mein Kind. Ich hatte eine enorme Kraft, dieses Leben über 10 Jahre so durchzuhalten. Ich suchte immer wieder nach kleinen Belohnungen in Form von ein oder zwei Glas Wein am Abend, um irgendwie abzuschalten. Ein Restaurantbesuch oder kleine Wellnessurlaube waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Heute weiß ich, dass ich sehr viel unternommen habe, um nicht mit mir in Verbindung zu kommen, denn als Resultat hätte ich mein Leben ändern müssen.

Ich habe es mir in meiner Komfortzone bequem gemacht. Das bedeutet, dass ich mir jeden Tag aufs Neue tief sitzende fatale Glaubenssätze bestätigt habe, die zum Beispiel hießen: „Ich bin ganz alleine da.“ „Ich muss es alleine schaffen.“ „Ich kann niemandem vertrauen.“ „Ich muss durchhalten – egal, um welchen Preis.“ „Nur mit Leistung und Erfolg werde ich geliebt.“ Mit diesen Glaubenssätzen funktionierte mein Leben vermeintlich gut und bestätigte mir das Weltbild, das ich mir kreiert hatte. Darin zu leben, war bequemer, als dort auszubrechen, mit all den Veränderungen, die dieser Schritt bedeutet hätte. Der Verstand, die Stimme in meinem Kopf, sagte immer wieder, dass das Leben so sein müsse und das Herz wurde übertönt. Ich wollte keinen Ausweg sehen, obwohl ich mich zunehmend erschöpft fühlte.

 

DIE DIAGNOSE: KREBS

Mit der Diagnose änderte sich dann mein Leben schlagartig. Es fielen viele Schuppen von meinen Augen, ich konnte endlich wieder fühlen. Die Konfrontation mit der Endlichkeit meines Lebens bescherte mir plötzlich ein schönes und reichhaltiges Leben.

Nach den ersten Tagen der Orientierungslosigkeit war der Alltags-Stress sofort weg, weil durch die Diagnose die Prioritäten ganz schnell an ihren rechten Platz gepurzelt sind. Mir war es wichtig, auch weiterhin zu arbeiten, um mich nicht die ganze Zeit mit der Krankheit zu beschäftigen und weil ich weiter Geld verdienen musste. Aber der Stress, der durch meine Arbeit auf mich einwirkte, prallte an mir ab.

Wenn man sich ernsthaft damit auseinandersetzen muss, vielleicht bald zu sterben, ist die Schönheit des Lebens so spürbar, dass ein Rauschen des Baumes, ein Vogel, der zwitschert, ein Sonnenauf- oder untergang ein so schönes Gefühl in mir auslöste und ich so friedlich wurde. In diesem friedlichen Zustand kam dann diese große, große Liebe – als erstes bemerkte ich sie meinem Kind gegenüber. Ich habe meine Tochter vorher auch geliebt, aber jetzt war die Liebe anders, intensiver und größer als alles andere. Ich fühlte aber genauso stark eine schmerzvolle Verlustangst, sie im Falle meines Todes alleine lassen zu müssen.

Auch die Menschen um mich herum waren plötzlich freundlich und mir zugewandt. Sogar die Menschen im Supermarkt und auf der Straße schauten mich freundlicher und liebevoller an, als wäre in mir eine Liebe frei geworden, die mir in meiner gesamten Umgebung gespiegelt wird. Ich war überwältigt von der Unterstützung aus meinem Umfeld - so viele Menschen boten plötzlich ihre Hilfe an und waren für mich und meine Tochter da.

In diesem, ich möchte sagen „aufgeweichten“ Zustand, holte ich mir auch professionelle psychotherapeutische Hilfe.

 

DAS WIEDER-LERNEN VON SELBSTLIEBE

Die folgende Zeit bescherte mir unglaubliche Erfahrungen und erweiterte meinen Horizont. Sie zeigte mir, das Leben nicht so eingeschränkt auf das Irdische bezogen zu sehen sondern die großen universellen Zusammenhänge zu begreifen und vor allem auch zu fühlen.

Die Möglichkeit meines Ablebens war oft Thema, die Angst davor, die Sorge um mein Kind. Ich habe gelernt, den Tod zu akzeptieren und ihn als eine von vielen Möglichkeiten zu sehen, wie meine Geschichte ausgehen könnte. Mein ganzes System entspannte und beruhigte sich dabei. Ich bin sogar davon überzeugt, dass erst durch die Akzeptanz des Todes Heilung möglich war.

Durch das Finden zu mir selbst konnte ich aufspüren, wie sehr ich mich selbst abgelehnt-, ein selbstzerstörerisches Leben geführt - und keine Selbstliebe gefühlt hatte. Diese Selbstliebe ist nach jeder Sitzung stärker geworden. Ich habe also gelernt, mich selbst zu schätzen, mich nicht abzulehnen sondern mich anzunehmen, so wie ich bin. Wenn ich in den Spiegel schaue, fällt mir nicht mehr auf, dass da eine Falte ist und ein graues Haar wächst. Ich sehe mich als großes Ganzes und freue mich darüber.

Das führte zu einem Wohlgefühl und einer Wertschätzung meines Körpers, sodass ich ihm keine Giftstoffe mehr zuführen mochte (Ernährung, Alkohol, Schlafrhythmus, Zucker, tote Fertignahrung). Ich konnte plötzlich stolz auf das sein, was ich bisher in meinem Leben geleistet habe. Auch ein Kompliment, das mir zugetragen wurde, habe ich nicht mehr heruntergespielt, sondern konnte es einfach so stehen lassen und mich darüber freuen.

Mir wurde tendenziell vorgelebt, dass man sich als guter Mensch (und besonders als Frau) vor allem um das Wohlergehen seiner Mitmenschen kümmern sollte, auch über seine eigenen Grenzen hinaus, denn wer an sich zuerst denkt, ist ein Egoist. Was für ein fataler Irrglaube! Nein, es hat sich für mich herausgestellt, dass ich durch die Selbstliebe wieder für mich selbst sorgen konnte und dadurch Verantwortung für mein Wohlergehen übernehmen durfte. Nicht die anderen waren Schuld, wenn es mir schlecht ging – ich hatte es wieder selbst in der Hand. Dadurch löste sich ein Großteil eines Grolls in mir einfach in Luft auf. Dadurch entfaltete sich eine Zufriedenheit und eine Liebe in mir, die meine Mitmenschen spürten und wiederum friedlich und zugewandt auf mich reagierten. Ein magischer wundervoller Kreislauf entstand! Wenn also jeder lernen würde, für sich selbst zu sorgen, würde sich ganz sicher Frieden auf diesem Planeten verbreiten, Kriege fänden schlicht und ergreifend nicht mehr statt. Oder anders gesprochen: Erst wenn ich meine eigenen Batterien aufgeladen habe, kann ich meinen Mitmenschen auch wieder etwas (ab)geben. Sonst entsteht Überforderung, Stress, keine Hingabe zu dem, was ich tue. Selbstliebe ist demnach eigentlich das Gegenteil von Egoismus! Selbstliebe steht für mich nun an oberster Stelle bei den Werten, die ich meiner Tochter vorleben möchte.

 

WELCHE AUSWIRKUNGEN HATTE DIES AUF DEN UMGANG MIT DER KRANKHEIT?

Ich konnte meine Krebserkrankung als einen Teil von mir akzeptieren. Und ein Teil von mir kann niemals ein Feind sein. Mein Krebs hat mir auf eine universelle Art und Weise zu verstehen gegeben, dass ich ganz essentiell etwas in meinem Leben ändern und auflösen möchte. So gesehen ist diese Krankheit der größte Lehrmeister meines Lebens und bei aller Dramatik auch ein Geschenk!

Die schulmedizinischen Behandlungen hatten für mich das Kontroverse, dass der Krebs dort „getötet, ausgemerzt“ werden sollte. Allein die dort verwandten kriegerischen Begrifflichkeiten schreckten mich ab. Dennoch habe ich einen großen Nutzen aus der Schulmedizin gezogen. Während der Verabreichung der Chemotherapie, als diese toxischen Substanzen in meine Venen flossen, musste ich innerlich eine ganz andere Haltung dazu finden, d.h. diese tötenden Substanzen in mir als ein heilendes Mittel zu sehen.

 

WIE GEHT ES DIR JETZT?

Momentan geht es mir gut. Mein Leben ist entspannt, ich komme wieder in meine alte Kraft zurück, die Haare sprießen wieder. Die Nebenwirkungen der Radiochemotherapie sind natürlich noch deutlich zu spüren, aber ich bin geduldig und ertrage. Ich umarme mich heute selbst, freue mich über Kleinigkeiten, verharre viel weniger darin, was gestern war und übermorgen sein könnte.